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AutorenbildIrmgard Underrain

Ein Mond für Leonore, oder die Kunst das kleine Glück zu finden

Diese Geschichte ist eine meiner Lieblingsgeschichte. Sie ist zwar etwas lang, jedoch sagt sie so viel aus und ist wunderschön.

Eine kindliche Perspektive und die richtigen Fragen lösen das Unmögliche: Ein Märchen über das Wesentliche und die Kraft des Zuhörens.
Eine kindliche Perspektive und die richtigen Fragen lösen das Unmögliche: Ein Märchen über das Wesentliche und die Kraft des Zuhörens.

Doch, lesen Sie selbst…

Es war einmal ein Königreich, in dem die kleine Prinzessin Leonore lebte. Sie war zehn Jahre alt und ging ins elfte. Eines Tages wurde Leonore krank, weil sie zu viel Himbeertorte gegessen hatte, und musste das Bett hüten. Der königliche Leibarzt kam, maß ihre Temperatur, fühlte ihren Puls und ließ sich die Zunge zeigen. Besorgt schickte er nach dem König, Leonores Vater.


Der König eilte zu seiner Tochter. „Ich will dir alles geben, was dein Herz begehrt“, sagte er. „Gibt es etwas, das du dir wünschst?“„Ja“, antwortete Leonore, „ich möchte den Mond. Wenn ich den Mond bekomme, werde ich gesund.“


Der König rief seinen Oberhofmarschall, einen großen Mann mit einer gewaltigen Brille, die ihn noch klüger erscheinen ließ. „Beschaffe meiner Tochter den Mond“, befahl der König. „Noch heute Abend oder spätestens morgen!“ Der Oberhofmarschall wurde blass und erklärte, der Mond sei 35.000 Meilen entfernt, zu groß für das Schlafzimmer der Prinzessin und aus geschmolzenem Kupfer. „Es ist unmöglich, Majestät.“ Wütend schickte der König ihn fort.


Als Nächstes rief der König den königlichen Zauberer, der in einer Robe voller goldener Eulen erschien. Doch auch er zögerte: „Der Mond ist 150.000 Meilen entfernt, doppelt so groß wie der Palast und aus grünem Käse.“ Ratlos kehrte er in seine Höhle zurück.


Der König versuchte es nun mit dem königlichen Mathematiker, einem kahlköpfigen Mann mit einer Feder hinter dem Ohr. Aber auch dieser meinte, der Mond sei 300.000 Meilen entfernt, halb so groß wie das Königreich und fest am Himmel verankert. Frustriert schickte der König auch ihn fort.


Schließlich rief er den Hofnarren. Dieser setzte sich lächelnd vor den Thron. „Die Prinzessin möchte den Mond haben“, erklärte der König verzweifelt. „Niemand kann ihn ihr bringen.“„Wie groß und wie weit entfernt ist der Mond?“ fragte der Narr.


„Die Gelehrten sagen alle etwas anderes“, seufzte der König. „Und jedes Mal wird der Mond größer und unerreichbarer.“„Dann sollten wir die Prinzessin fragen, wie groß und weit entfernt sie ihn sieht“, schlug der Narr vor.


Der Hofnarr ging zu Leonore, die schwach, aber erfreut war, ihn zu sehen. „Hast du den Mond mitgebracht?“ fragte sie. „Noch nicht“, sagte er, „aber wie groß ist er denn?“„Er ist ein bisschen kleiner als mein Daumennagel“, sagte sie, „denn wenn ich meinen Daumennagel gegen den Mond halte, verdeckt er ihn gerade.“ „Und wie weit ist er entfernt?“ „Er hängt nicht höher als die Zweige des Baumes vor meinem Fenster“, antwortete Leonore. „Und woraus ist er gemacht?“ „Natürlich aus Gold, du Dummkopf!“ lachte sie.


Der Hofnarr ging zum Königlichen Goldschmied und ließ bei ihm einen niedlichen runden, goldenen Mond anfertigen, der gerade so groß war wie Leonores Vorstellung. Als sie ihn erhielt, war sie überglücklich, und schon am nächsten Tag war sie wieder gesund. Sie trug den Mond stolz an einer Kette um den Hals.


Doch der König hatte Angst, Leonore könnte den echten Mond am Himmel sehen und die Täuschung bemerken. Keiner der Gelehrten wusste eine Lösung, die die Prinzessin nicht erneut krank machen würde. Der Oberhofmarschall schlug vor, eine schwarze Brille für Leonore zu besorgen. Der königliche Zauberer wollte den Garten mit Samtvorhängen überdachen. Der Mathematiker schlug ein Feuerwerk vor, um den Himmel zu erleuchten. Doch alle Ideen wurden verworfen – sie waren entweder unsinnig oder gefährlich für Leonore.


Als der König aus dem Fenster blickte, sah er voller Schrecken den leuchtenden Mond über dem Horizont. Er rief den Hofnarren.„Spiel mir etwas sehr Trauriges“, sagte er verzweifelt, „denn wenn die Prinzessin den Mond sieht, wird sie wieder krank.


“Doch der Hofnarr erwiderte: „Wenn Eure Gelehrten den Mond nicht verstecken können, dann kann er nicht versteckt werden. Aber wer wusste, wie man den Mond beschafft? Das war Leonore. Sie ist klüger als alle Gelehrten.“


Und ehe der König ihn zurückzuhalten vermochte, schlich er still aus dem Thronsaal und hinauf über die Marmortreppe ins Schlafzimmer der Prinzessin. Sie war schon zu Bett gegangen, jedoch noch ganz wach und schaute aus dem Fenster zum Himmel, wo leuchtend der Mond stand. In ihrer Hand glänzte der Mond, den ihr der Hofnarr gebracht hatte. Dieser schaute sehr bekümmert drein, und in seinen Augen schienen Tränen zu schimmern.


„Sag mir nur, Prinzessin Leonore“, fragte er kläglich, „wie kann der Mond am Himmel scheinen, wenn er doch um deinen Hals an einer goldenen Kette hängt?


“Die Prinzessin blickte ihn an und lachte. „Das ist nicht schwer, du Dummkopf“, sagte sie. „Wenn ich einen Zahn verliere, wächst ein neuer dafür, nicht wahr? Und wenn der Gärtner im Garten Blumen schneidet, blühen andere Blumen an ihrer Stelle auf.“


„Daran hätte ich selber denken können“, sagte der Hofnarr, „das ist ja dieselbe Geschichte wie mit dem Tageslicht.“


„Und mit dem Mond ist es auch dieselbe Geschichte“, sagte die Prinzessin Leonore. "Ich glaube, dass es mit allem so ist", sagte die Prinzessin friedlich.


Ihre Stimme wurde ganz leise und verlor sich allmählich, und der Hofnarr merkte, dass sie eingeschlafen war. Behutsam schob er ihre Kissen zurecht. Aber ehe er das Zimmer verließ, ging er hinüber ans Fenster und zwinkerte zum Mond hinauf, denn es schien dem Hofnarren, als ob der Mond ihm zugezwinkert habe.


Die Kraft des Fragens und des Perspektivwechsels

Die Geschichte vom Mond für Prinzessin Leonore zeigt auf wunderbare Weise, wie die Dinge manchmal einfacher sein können, als sie scheinen. Während kluge Köpfe den Mond als unerreichbar und unvorstellbar groß beschreiben, sieht Leonore ihn durch ihre kindliche Perspektive greifbar nah und klein – genau passend für ihre Wünsche. Der Hofnarr erkennt die Bedeutung dieser Sichtweise und erfüllt ihren Wunsch, indem er ihre Vorstellung in die Realität umsetzt. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, Menschen direkt zu fragen, was sie wirklich wollen, statt Annahmen über ihre Bedürfnisse zu treffen. Das Märchen lehrt, dass oft ein Perspektivwechsel und einfache Lösungen ausreichen, um vermeintlich unlösbare Probleme zu bewältigen – und erinnert daran, das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren.


Der Autor dieser Geschichte ist der Amerikaner James Thurber (geboren 1894, gestorben 1961)

Er war Journalist, Dichter und Zeichner. Lange Jahre war er freier Mitarbeiter an der weitverbreiteten Zeitschrift „The New Yorker“. Mit seinen humoristischen Geschichten und Zeichnungen stellt er Auswüchse des modernen Lebens bloß.


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